Den Satz kennt man und normalerweise bedeutet dieser Satz, dass man die Armut anderer Menschen nicht sehen will. Man ist genervt davon, dass man vor Augen gehalten wird, dass es Armut bei uns gibt. In einem der reichsten Länder der Welt gibt es immer noch Menschen, die morgens nicht wissen, ob sie sich an diesem Tag genug oder überhaupt etwas zu Essen leisten können. Je mehr Armut es gibt, desto sichtbarer wird sie.
Nachdem es mit der Pandemie soweit vorbei war, bin ich wieder etwas mehr durch Deutschland gefahren und war häufiger wieder in Bremen und Hamburg (und anderen Städten). Im Gegensatz zu Oldenburg wird man in den Städten teilweise sehr heftig mit der alltäglichen Armut konfrontiert. Vor allem in Hamburg: Kaum eine Fahrt mit der U- oder S-Bahn, bei der nicht mindestens eine Person nach etwas Kleingeld oder Pfandflaschen fragt. Wie es auf den Bahnsteigen an den Bahnhöfen aussieht ist allen bekannt, die gelegentlich mal mit dem Zug fahren.
Wenn ich ausnahmsweise mal Kleingeld in der Tasche habe oder gerade eine Pfandflasche, die ich nicht schon neben einen Mülleimer gestellt habe, dann trenne ich mich davon ohne drüber nachzudenken. Es ist aber die Ausnahme, da ich kaum noch Bargeld benutze. Was für mich aber normal ist: Ich signalisiere den Menschen, dass ich eben nichts haben, was ich ihnen geben könnte. Ob ich es sage oder versuche durch Gesten/Mimik rüber zu bringen hängt von der Situation ab. Das scheint aber für eine hinreichend große Zahl an Menschen nicht selbstverständlich zu sein. Wenn eine um Geld oder Pfandflaschen bittende Person sich bei mir dafür bedankt, dass ich sie wahr genommen und reagiert habe, dann läuft doch was falsch.
Danach habe ich angefangen in solchen Situationen die Menschen um mich herum zu beobachten bzw. ihre Reaktionen. Es hat mir erschreckt. Fast die Hälfte der Menschen ohne Kopfhörer haben nicht einfach nur die Bitte ignoriert, sie haben die Menschen ignoriert, die gebettelt haben. Selbst wenn sie direkt angesprochen wurden, haben sie so getan, als wäre die bettelnde Person überhaupt nicht existent.
Nicht falsch verstehen: es ist absolut legitim einer bettelnden Person nichts zu geben, dazu braucht man nicht mal einen Grund. Jede Person kann natürlich frei entscheiden, ob sie etwas von ihrem Kleingeld abgeben möchte oder eben nicht. Man kann die Taschen voller Geld haben und nichts geben wollen – das können andere verwerflich finden, aber es bleibt eine legitime Entscheidung. Nur reagiert halt wenigstens. Es kostet genau gar nichts, einfach zu sagen „Nein“ oder den Kopf zu schütteln. Aber damit es ist zumindest eine Reaktion statt so zu tun, als wäre die andere Person gar nicht existent.
An allen Ecken wird eine Spaltung der Gesellschaft beklagt und genau so etwas trägt tatsächlich zur Spaltung bei: Wenn wir anfangen andere Menschen nicht mehr als Menschen zu sehen, sondern so tun, als wäre sie gar nicht da, weil sie uns gerade stören, an Probleme erinnern oder weil wir sie nur für arbeitsscheu halten, dann braucht man sich nicht wundern, wenn die Gesellschaft langsam kaputt geht. Man kann über alles diskutieren, man kann jede Meinung darüber haben, warum jemand bettelt und warum man in solchen Fällen etwas oder auch nichts geben sollte. Man kann einer bettelnden Person auch einen Vortrag darüber halten, welche Meinung man dazu hat. Aber ist es echt so schwer, Menschen nicht einfach zu ignorieren?
Kommen wir zurück zur Überschrift: Was mich ankotzt ist die Armut an Menschlichkeit viel zu vieler Menschen…
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@dobschat Ein Satz ist sehr wichtig: Man braucht sich nicht zu schämen, wenn man nichts gibt. Das, denke ich, ist eines der größten Hindernisse dabei, Kontakt zuzulassen.