Eine Krankenhausgeschichte

Nein, es ist keine Krankenhausgeschichte, wie sie in diversen TV-Serien üblich ist, das ist eine sehr reale Geschichte. Und es hat einen Grund, warum ich hier nur von der Patientin und den Angehörigen schreiben werde, denn ich schreibe das auf, weil ich zu den zweitgenannten gehöre und versuche mit dem Aufschreiben hier Frust und Wut los zu werden. Daher der sprachliche Abstand, wenn ich den nicht einhalten würde, dann würde ich nur das Gegenteil erreichen und noch viel wütender werden.

Die Patientin ist inzwischen 95 Jahre alt und hat bis zuletzt in ihrer Wohnung gelebt, in der sie 45 Jahre ihres Lebens gelebt hat. Sie wohnte dort alleine, war aber nie wirklich alleine, obwohl die meisten Angehörigen weiter weg wohnen, denn sie hat Freunde, Nachbarn und Bekannte, die sie besuchten, ihr bei Dingen wie Einkauf oder so helfen. Telefonate mit Freunden und Verwandten, die weiter weg wohnen sind bei ihr fast schon eine Art tägliches Ritual. Gegenüber ihrem Hausarzt klagt sie über längere Zeit wegen Schmerzen im Bein, die nicht aufhören. Bei seinem letzten Hausbesuch will er auch eine Thrombose abgeklärt haben, so steht es zumindest auf seiner Rechnung (einer der Vorteile als Privatpatient: Man sieht, was abgerechnet wird). Trotzdem ist die Patientin eine Woche später im Krankenhaus, nachdem eine andere Ärztin auf Hausbesuch war.
Das betroffene Bein ist eiskalt und blau, im Krankenhaus wird gesagt, dass die Durchblutung schon seit einiger Zeit stark eingeschränkt gewesen sein müsste. Der erste WTF-Moment bei den Angehörigen: Warum hat der Hausarzt das nicht erkannt, wo er doch auch die Krankengeschichte der Patientin kennen sollte, zu der eben auch bereits eine OP wegen Durchblutungsstörungen gehörte? Die Prognosen sind nicht besonders. Es ist von der Möglichkeit einer Amputation die Rede. Dazu kommt, dass die Patientin immer öfter einen sehr verwirrten Eindruck macht, aber man weiß halt nicht, wie viel davon auf die Medikamente zurückzuführen ist.
Der erste Hoffnungsschimmer: Es scheint doch eine OP möglich zu sein. Die Medikamente haben gut angeschlagen, statt einer Amputation könnte nun ein Bypass gelegt werden, die Angehörigen hoffen, dass sich der Wunsch der Patientin erfüllt und sie zurück in ihre Wohnung kann. Und es sieht auch alles gut aus, die OP war ein Erfolg, die Durchblutung läuft wieder, der Zustand des Beins verbessert sich nach der Operation sichtlich, einzig ein Zeh wird wohl nicht zu retten sein, aber das wäre ja kein Hindernis…
Der nächste Rückschlag: Die Verwirrung mag durch die Medikamente verstärkt worden sein, aber nach entsprechenden Untersuchungen steht die Diagnose Alzheimer-Demenz und bereits deutlicher Schwund an Hirnmasse. Möglicherweise wurde das auch durch die Durchblutungsprobleme verstärkt. Würde sie trotzdem mit ambulanter Pflege zurück in ihre Wohnung, ihr gewohntes Umfeld können? Das hängt davon ab, wie schnell der geistige Abbau voran schreiten würde. Zur Nachbehandlung und auch wegen der Alzheimer-Demenz wird die Patientin in ein anderes Krankenhaus verlegt, welches sich unter anderem als „eine Spezialklinik zur Erkennung und Behandlung von Erkrankungen im Alter“ bezeichnet. Klingt doch nach genau der richtigen Adresse. Nein, die Hoffnung geben die Angehörigen so wenig auf wie die Patientin, auch wenn sie oft gar nicht mehr weiß, warum sie eigentlich im Krankenhaus liegt.
Wenn die Angehörigen dachten im ersten Krankenhaus Kontakt zu überarbeiteten, gestressten und überforderten Pflegekräften gehabt zu haben, dann erleben sie im zweiten Krankenhaus eine deutliche Steigerung. Da werden gebuchte und bezahlte Zusatzleistungen nicht erbracht, wie das Waschen der Wäsche der Patientin. Da werden die alten Nachthemden einfach in den Schrank gestopft und sie bekommt eines angezogen mit einem riesigen Urinfleck- den hat man zumindest trocknen lassen, bevor man sie da rein gesteckt hat. Und niemand kann erklären, warum ihr Telefon – das natürlich auch extra kostet – ständig lautlos geschaltet ist. Aus Versehen passiert so was nicht, aber was wäre die Welt ohne Geheimnisse? Dazu Schwestern, die nicht einmal versuchen so zu tun, als wären ihnen ihre Patienten nicht lästig. Die Patientin fühlt sich immer öfter als Ärgernis für viele der Schwestern und nicht wie eine Patientin, schon gar nicht wie eine Privatpatientin.
Aber es gibt auch gute Nachrichten. Die Physiotherapeutin schafft es innerhalb einiger Tage die Patientin soweit zu mobilisieren, dass sie selbst und ohne Hilfe vom Bett in den Rollstuhl und auch wieder zurück wechseln kann. Es beginnt wieder etwas Hoffnung aufzukeimen. Dieser Physiotherapeutin kann man gar nicht oft genug danken, schließlich wird es auch ihrer Anmerkung zu verdanken sein… aber ich greife vor.
Eine der Angehörigen, die ihren Jahresurlaub zum größten Teil mit in den beiden Krankenhäusern verbracht hat und sich um die Angelegenheiten der Patientin kümmert, hat den Eindruck, dass das Bein wieder schlechter aussähe und auch wieder deutlich kälter wäre. Auch die Patientin klagt gegenüber den Schwestern über stärker werdende Schmerzen in dem Bein und bittet um mehr Schmerzmittel. Ein erster Versuch mit der zuständigen Ärztin zu sprechen scheitert, denn die wäre „heute nicht im Haus“. Vertretung scheint es keine zu geben. Am nächsten Tag ist die Ärztin da und lässt gegenüber der Angehörigen sehr deutlich durchblicken, was sie von diesem Eindruck hält und vor allem von der Tatsache, dass man sie damit behelligt. Nichts. Es fallen Sätze wie „Wenn sie glauben, dass sie meinen Job besser beherrschen als ich, dann machen sie doch, was sie wollen“ oder „Ich bin nicht umsonst Ärztin und sie nicht“ und ähnliches. Auch sei das Bein seit der Einlieferung unverändert. Die Patientin habe während der Visite auch nie über Schmerzen geklagt. Sorry, kurzer Einschub. Wer war schon einmal im Krankenhaus? Liege ich da so falsch, wenn ich sage, dass eine Visite dort in den meisten Fällen kaum länger als 45 Sekunden dauert, in denen am Bett des Patienten vor allem mal über den Patienten gesprochen wird und unqualifizierte  Zwischenfragen des unqualifizierten Patienten nur als deutliche Störung des routinierten und scheinbar zeitlich genau geplanten Ablaufs der Visite gesehen und dementsprechend behandelt werden? Nein, oder?
Wieder was gelernt: Gegenüber dem Pflegepersonal geäußerte Beschwerden zählen nicht, man muss es als Patient irgendwie schaffen, diese während einer Visite zu kommunizieren. Erst der Hinweis der Physiotherapeutin, dass sie den Eindruck einer Verschlechterung des Zustands teilt führt zusammen mit der nachdrücklichen Forderung das zu untersuchen zu einem Umdenken. Die Patientin soll zurück in die vorherige Klinik, damit dort ihr Bein und der Bypass und alles genau durchgecheckt werden. Im Zuge dessen stellt sich noch heraus, dass das zweite Krankenhaus angeblich von der ersten Klinik immer noch nicht erfahren hätte, wie die Medikation der Patientin auszusehen habe. Man habe da einfach keinen Rückruf erhalten. In den ganzen 1,5 Wochen nicht.
Entschuldigung, aber gerade platzt mir der Kragen: Eine Patientin wird nach einer OP in einem anderen Krankenhaus eingeliefert und man wartet mal seelenruhig 1,5 Wochen ab, ob nicht vielleicht vom Krankenhaus, in dem operiert wurde, irgendwelche Infos zur Nachbehandlung kommen? Es ist ja nicht so, dass da irgendwie größere Barrieren dazwischen liegen würden, es gibt eine Buslinie zwischen beiden Kliniken, da fährt man 4 Minuten. Vier verdammte Minuten! Wenn da keiner ans Telefon geht oder zurück ruft, dann fährt man eben selbst mal vorbei oder schickt einen Medizinstudenten auf Praktikum oder sagt den Angehörigen bescheid, dann wären die gegangen. Es kann doch nicht sein, dass man da 1,5 Wochen praktisch im Blindflug Medikamente gibt.
Soviel dann auch zum Thema „Sie bekommt hier jetzt deutlich weniger Tabletten jeden Tag, das ist doch ein gutes Zeichen“, denn bei der Untersuchung zurück im ersten Krankenhaus kommt die Info, dass eigentlich genau die gleichen Medikamente wie dort weiter hätten verabreicht werden sollen. Ah ja, also die Medikamentenzusammenstellung, die man im zweiten Krankenhaus nicht kannte und der man scheinbar nicht wirklich motiviert nachgegangen ist? Gut zu wissen, vielleicht ein bisschen spät. Im weiteren Verlauf der Untersuchung die Feststellung, dass die Durchblutung im Bein wieder praktisch bei Null ist, alles wieder verstopft und nicht erst seit einigen Stunden, sondern wohl eher seit Tagen. WTF?!
Also wieder eine Operation, das war gegen 16 Uhr und wieder alles offen, im schlimmsten Fall stünde auch wieder eine Amputation im Raum. Ab 18 Uhr könne die Patientin operiert werden, gegen 19:30 Uhr ist sie dann endlich auf dem Weg in den OP-Bereich. Die Angehörigen versichern sich, dass sie telefonisch informiert werden, sobald sich etwas tut und gehen nach Hause bzw. in die Wohnung der Patientin. Und warten. Und warten. Bis kurz nach Mitternacht, dann der Versuch etwas zu erfahren. Anruf im Krankenhaus. Das Gespräch lässt sich in etwa so zusammenfassen: „Ach ist ja nett, dass sie anrufen. Die Patientin ist wieder im Zimmer, es gab einen anderen Notfall. Nein, wir wissen nicht, wann sie operiert wird, möglicherweise noch heute Nacht oder morgen früh. Ach und die Patientin wollte, dass wir sie anrufen, aber es war ja schon so spät und so…
Zum ersten Mal in 45 Jahren stellt sich das Gefühl ein, dass in der Wohnung der Patientin etwas fehlen würde. Ein Sandsack, auf den man einprügeln könnte. Es wird dem Personal im Krankenhaus zum wiederholten Mal und unmissverständlich klar gemacht, dass man benachrichtigt werden möchte, wenn sich solche Entwicklungen ergeben und dass es absolut irrelevant ist, wie spät es ist, wenn die Patientin mit ihrer Angehörigen sprechen möchte, die für sie alles regelt, dann soll gefälligst angerufen werden, egal ob morgens, mittags, abends oder auch nachts. WTF?!
 
Ja, ich bin verdammt sauer, aber gar nicht mal so sehr auf die Personen, um die es geht, sondern auf die Politik. Denn die Politik schafft die Rahmenbedingungen, die zu einem nicht unerheblichen Teil für so eine Scheiße verantwortlich sind. Wir sind ja ein ach so zivilisiertes Land und Menschenrechte und Humanismus und so, aber wehe ein Mensch ist aufgrund von Krankheit und/oder Alter auf das Pflege- und Gesundheitswesen angewiesen, dann ist schnell vorbei mit dem Humanismus, denn in diesem System zählt nur das, was immer zählt: Geld! Und so lange in diesem System an vorderster Front Menschen arbeiten, die es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, pünktlich Feierabend zu machen und die ihnen anvertrauten Personen im Stich zu lassen, so lange kann man an den Personalkosten sparen. Und noch ein bisschen sparen. Und noch ein wenig. Heyho, irgendwo müssen die ganzen Überstunden ja gemacht werden.
Und was mich wirklich traurig macht: Alle Menschen, die ich kenne, die in diesem System arbeiten, ob Therapeuten oder Pflegekräfte, alle sagen sinngemäß folgenden Satz:

Es war mein Traumberuf, aber wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, dann hätte ich ihn auf gar keinen Fall ergriffen.

Und inzwischen ist es 2:43 Uhr, der Versuch mir den Frust und die Wut von der Seele zu schreiben betrachte ich als grandios gescheitert. Viele Worte, aber weit entfernt vom Ziel, dabei habe ich bei der Beschreibung noch viele Details weg gelassen. In Sachen Operation gibt es immer noch nichts, weiter warten und versuchen zu schlafen (haha). Aber bevor ich den in Anbetracht der Uhrzeit und meiner Müdigkeit wohl hoffnungslosen Versuch unternehme, die oben sicher reichlich vorhandenen Tippfehler zu beseitigen…
Update: Noch ein kleines Rätsel für alle, die bis hierhin gelesen haben. Was glaubt ihr, wer wurde heute früh dann doch operiert? Und wer wurde darüber nicht informiert, sondern hat es erst durch einen Anruf im Krankenhaus erfahren? Ich denke, die Antworten kennt ihr. Bisher wissen wir auch nicht, was genau jetzt gemacht wurde bei der OP, das erfahren wir noch irgendwann. Aber auch ohne Arzt trauen wir uns die „Diagnose“ zu, dass das Bein noch dran ist. Immerhin.

Beitragsbild von Parentingupstream via pixabay.com, Lizenz: CC0/Public Domain

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